Ordensgemeinschaften in Deutschland

Die Experten für den Sinn im Leben

Interview mit P. Clemens Blattert SJ zum endenden Jahr der Orden

Den Weg frei machen. Das Glück finden. Das eigene Ich entdecken. Derartige Angebote gibt es unzählige, sie bedienen die dem Menschen immanente Suche nach dem Sinn im Leben. Dabei gibt es seit Jahrhunderten Experten für die Suche nach dem Lebenssinn: katholische Orden. Was heute Selbst-Verwirklichung heißt, nennen sie Berufung. Der junge Jesuiten-Pater Clemens Blattert ist seit kurzem zuständig für den Ordensnachwuchs. Doch er sieht seine Aufgabe viel weiter gefasst: als eine Art Lebenssinn-Coach.

Pater Blattert, können Sie erklären, was Berufung ist?

Berufung – da steckt das Wort „Ruf“ drin. Wir Christen sind davon überzeugt, dass Gott jeden Menschen persönlich meint und einen persönlichen Ruf an ihn hat. Es kann ein Ruf ins Leben sein, ein Ruf in eine Aufgabe, in einen Sinn in diesem Leben.

Wenn es diese Berufung in mir gibt, wenn Gott in mir ruft, wieso brauche ich dann jemanden, der für Berufungen zuständig ist? Ist das jemand, der mir erklärt, was Gott mir zuruft, weil ich das sonst nicht verstehen würde?

Martin Buber schreibt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht alles aus uns selber heraus erkennen und zustande bringen. Wir brauchen unsere Eltern, um ins Leben zu kommen, wir brauchen Freunde, die uns neue Horizonte zeigen, wir brauchen Lehrer, wir brauchen Vorbilder. Und so kann es auch hilfreich sein, einen Menschen als Begleiter, als Berater zu haben, der mir hilft, mehr zu dem zu kommen, was in mir versteckt ist.

Man verbindet mit religiösen Berufungen ja die Vorstellung von Paulus, der vom Blitz getroffen vom Pferd fällt, von Feuerzungen oder Engelsstimmen. Wie war das bei Ihnen?

So spektakulär war es bei mir nicht. Berufung ist ja selten ein einzelnes Erlebnis oder Gespräch, ich würde daher von einem Berufungspuzzle sprechen. Was für mich aber ein sehr prägendes Erlebnis war, war eine Nacht: hundert junge Leute, musikalisch interessiert, zogen über eine Insel und feierten an drei Stationen Gottesdienste. Es wurden Texte von Alfred Delp, einem Jesuiten, vorgelesen, und ich erinnere mich, dass sie mich sehr beeindruckten. Ein Freund von mir war dabei, der mir kurz vorher gesagt hatte, dass er Priester werden wolle und im Priesterseminar anfangen werde. In dieser Nacht dachte ich mir dann: könnte das auch etwas für Dich sein?

Wie merkt man das, dass der Punkt gekommen ist für eine solche Entscheidung?

Bei mir war es das Gefühl: es stimmt, ich bin bei mir, das entspricht mir. Dieses Gefühl, dass alles stimmig wird, wurde immer klarer. Aus der Klarheit entspringt dann auch eine Aufbruchsfreude auf einen neuen Weg.

Was genau ist Ihre Aufgabe als der Beauftragte der Jesuiten für Berufungspastoral?

Als erstes bin ich Ansprechpartner für alle, die sich dafür interessieren, Jesuit zu werden. Meine zweite Aufgabe ist es, jungen Menschen zu helfen, die auf der Suche nach dem Mehr im Leben sind: sie zu begleiten, entsprechende Angebote zu machen, damit sie dem auf die Spur kommen, was sie eigentlich suchen. Im Grunde geht es darum, Räume zu eröffnen für ihre Suche, für ihre Fragen. Räume, in denen sie Gott begegnen können, um diesen Ruf zu hören: Was sagt er zu mir, wo ist mein Platz? Ich möchte für junge Menschen eine geistliche Zukunftswerkstatt anbieten.

Was sind das für Menschen, die zu Ihnen kommen und sich für ein Ordensleben interessieren?

Zunächst einmal sind das Leute, die auf unseren Orden aufmerksam geworden sind und von der Arbeit des Ordens überzeugt sind. Die vielleicht auch in sich spüren: Da ist ein Talent, das ich mitbringe, im Bildungsbereich vielleicht oder in der Seelsorge, eine Leidenschaft, die ein Ziel sucht, und die sich sagen: Vielleicht kann ich das bei den Jesuiten besser als anderswo leben und meine Talente zum Nutzen anderer einbringen.

Was sagen Sie einem suchenden Menschen, der zu Ihnen kommt? Weshalb sollte er Jesuit werden?

Das sag ich ihm gar nicht! Ich versuche im Gespräch mit ihm herauszufinden, ob das sein Platz ist, ob das tatsächlich der Ruf Gottes ist. Ich mache natürlich Werbung für meinen Orden, weil ich überzeugt bin, dass das eine überzeugende Lebensform auch heute sein kann. Aber ich lenke niemanden in eine Richtung, die nicht die seine ist.

Wie gelingt es Ihnen, Werbung für einen Orden zu machen, der Enthaltsamkeit, Gehorsam und Armut gelobt? Das passt doch gar nicht in unsere Zeit?

Vielleicht gerade deshalb? Auf den ersten Blick könnte man denken: das Leben als Jesuit sei eine reine Reduzierung und habe nichts mit einem Glücksversprechen oder mit einem erfüllten Leben zu tun. Tatsächlich schafft die Reduzierung auf das Wesentliche ungeheuren Freiraum, wenn man sich darauf einlässt. Das wichtigste ist aber, dass man Jesuiten kennen lernt. Das ist die leichteste Überzeugung, ob dieses Leben überzeugt. Für mich war zum Beispiel der Beweis, dass man den Zölibat leben kann, ein älterer Priester, der mit 80 Jahren noch so ein Feuer in den Augen hatte. Ja, es ist möglich, in dieser Lebensform glücklich zu werden und lebendig zu bleiben.

Das zweite ist, dass die Interessenten selbst Erfahrungen machen, zum Beispiel in den Exerzitien die Erfahrung mit Gott. Dass sie spüren: ja, diese Beziehung kann etwas so Erfüllendes haben, dass ich mein ganzes Leben darauf bauen will. Darüber hinaus versuche ich Erfahrungen zu vermitteln, wie es sich anfühlt und welchen Reichtum man erfährt, wenn man eine bestimmte Arbeit tut: zum Beispiel mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, ihnen hilft, in die Selbstständigkeit zu kommen. Darin sehe ich vor allem meine Aufgabe: einen Ort anzubieten, an dem man diese Erfahrungen machen und reflektieren kann, ob das etwas ist, das mich erfüllt.

Welchen Platz hat ein solcher Ort in einer Zeit, die einerseits geprägt ist durch wachsende Kirchenferne, andererseits aber durchaus Raum für Sinnsuche bietet?

Jede Zeit hat ihre Herausforderung in der Glaubensverkündigung, und wir Jesuiten haben gerade dieses Anliegen, die Botschaft des Evangeliums immer wieder neu in das Heute zu übersetzen. Natürlich auf dem Erfahrungshintergrund der Tradition, aber immer für den heutigen Menschen verstehbar, erfahrbar. Genau das sehe ich für meine Arbeit als die Herausforderung, die mich begeistert, denn ich bin in diese Zeit gestellt und möchte in dieser Zeit arbeiten. Die Frage nach dem Sinn im Leben wiederum wird es geben, so lang es Menschen gibt. Ob die Menschen ihren Sinn dann gleich in oder mit der Kirche finden, sei noch einmal dahin gestellt. Unsere Aufgabe als Jesuiten ist es, zu schauen, wie können wir den Menschen helfen, ihre ganz persönliche Sinn-Frage zu stellen, wo können wir ihr Raum geben.

Wie würden Sie das Evangelium für moderne Menschen formulieren, was ist sein Markenkern?

Mensch, frag dich, wo du wirklich frei bist, wo du eine tiefe Erfüllung für dich selber findest, und wenn du unruhig wirst, dann bleib auf dieser Suche, zu der dich diese Unruhe antreibt und gib dich nicht zu schnell zufrieden. Ich glaube, dass es ein Anliegen des Evangeliums ist, Menschen unruhig zu machen. Ein zweites ist es, dass dieses Evangelium in eine Begegnung mit einer anderen Person führen will. Wenn man Menschen fragt, wann sie am glücklichsten sind, antworten sie meistens: wenn sie mit Freunden zusammen sind, wenn sie eine gelingende Beziehung haben, wenn sie sich in der Familie aufgehoben fühlen. Dann haben viele äußere Dinge gar keine Relevanz mehr. Die Botschaft des Evangeliums ist, dass da jemand ist, der eine Beziehung, eine Freundschaft, etwas noch Tieferes als Familie für mich sein möchte. Jesus, Gott, kann man kennen lernen und aus dieser Beziehung heraus ein sehr erfüllendes Leben spüren. Dass, würde ich sagen, ist die freimachende und erfüllende Botschaft dieses Evangeliums.

Würden Sie sagen, dass die fehlenden äußeren Formen des Jesuitenordens – kein Habit, kein Stundengebet, keine barocken Klöster – Ihre Arbeit eher erleichtern oder erschweren?

Es gibt unterschiedliche Orden, weil es unterschiedliche Menschen und unterschiedliche Stile der Nachfolge Jesu gibt. Für die einen ist ein Habit unglaublich hilfreich, ist das Leben in einem Kloster mit den sehr geregelten Tagesabläufen genau das Richtige, um in diese Botschaft hineinzuwachsen. Wir Jesuiten möchten mitten in der Welt leben und dieser Welt sehr ähnlich sein. Stärker vielleicht als andere am Puls der Zeit, um genau dort unsere Botschaft zu leben.

Manchmal erlebe ich es, dass Menschen enttäuscht sind, wenn sie erfahren, dass ich Ordensmann bin, aber keinen Habit trage. Es gibt diese Attraktivität der äußeren Form und Sichtbarkeit. Für mich ist das dann aber die Chance, ins Gespräch zu kommen: Was mein Ordensleben eigentlich ausmacht. Und dann spreche ich über das Eigentliche, nämlich meine Beziehung zu Gott.

Wie würden Sie das spezifisch Jesuitische beschreiben?

Für den Benediktiner ist das Kloster das Spezifische, für den Franziskaner der Habit, für uns Jesuiten ist das Verbindende und Prägende sicher das Erfahren der Exerzitien. Das ist nicht einfach zu erklären, das muss man erleben, was da wirkt, wenn man über eine Woche oder bei den großen Exerzitien über 30 Tage beieinander ist im Schweigen, in der Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes, in der Konzentration auf Jesus Christus. Aus dieser tiefen Erfahrung trifft man eine Lebensentscheidung für sich, die ebenso bindet wie frei macht, und die einen in die Welt hinauslässt mit einem Auftrag, der ganz verschiedene Facetten annehmen kann.

Sie sagen es selbst: das ist nicht einfach zu erklären. Ist das eines der Hindernisse, Nachwuchs für Ihren Orden zu finden?

Klar, in einer Zeit, in der sehr viel auf Gewinnmaximierung, auf Ökonomisierung, auf Karrieren, auf Ansehen angelegt ist, in der eher diese Werte in der Gesellschaft etwas bedeuten, ist es nicht einfach, wenn wir mit Schweigen, Exerzitien und Gotteserfahrung kommen. Entscheidend ist, dass wir Jesuiten – ein jeder von uns – unser Leben, unseren Orden aktiv in der Gesellschaft vertreten und durch uns selbst zeigen, dass diese Lebensform attraktiv ist.

Kann man Ihre Aufgabe vergleichen mit Werbung oder Marketing?

Ja und nein. Einerseits ist es gut, öffentlich zu machen, was man tut. Jesus hat selbst gesagt, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel. Ich würde gerne in der Öffentlichkeit mehr darüber sprechen, was wir Jesuiten tun, warum wir das tun, und was uns an dieser Arbeit begeistert. Nicht deshalb, um möglichst viele zu gewinnen, die mit uns arbeiten oder die selber Jesuit werden. Sondern um Menschen, die uns nicht kennen und keinen Zugang zu Jesuiten haben, zu zeigen, was Jesuiten tun und wie man Jesuit wird. Und hier kommt das, was meine Arbeit von Werbung unterscheidet: ich will einen Menschen nicht überzeugen, etwas zu tun, was nicht sein Ruf ist. Ich will ihm helfen, seinen Ruf zu hören. Wobei ich jetzt diesen Job habe, aber viele Jesuiten tun genau dasselbe: sie begleiten junge Menschen auf ihrem Weg zu dem Mehr im Leben.

Wenn Sie sich einen Jesuiten schnitzen könnten, wie sieht der Idealtyp aus?

Er sollte einen Kopf, ein Herz und zwei Hände mitbringen. Einen Kopf, der bereit ist zu reflektieren, vor allem seine Erfahrungen, die er gemacht hat. Ein Herz, das Gefühle zulässt und bereit ist, auch Leidenschaft zu wagen. Es soll jemand sein, der neugierig ist, offen, der eine Freude mitbringt an der Welt, aber gleichzeitig auch ein Interesse, Gott näher kennen zu lernen. Einer, der sich öffnen kann und dann wieder einkehren. Jemand, der auch eine gewisse Liebe zur Einsamkeit hat, denn wir leben zwar in Gemeinschaft, und doch ist es ein Leben, das jeder selber gehen muss. Und nicht zuletzt sollte er mit seinen Händen anpacken wollen: diese Welt mitgestalten, zum Besseren. Es sollte jemand sein, der Lust hat, sich auf neue Dinge einzulassen und auch neue Dinge mit sich selber auszuprobieren.

Was sind ihre Ideen für die Berufungspastoral? Was wollen Sie ausbauen, was wollen Sie anders machen, wie wollen Sie heran gehen an diese Aufgabe?

Ich möchte gerne eine geistliche Zukunftswerkstatt aufbauen, wo junge Erwachsene, die auf der Suche nach dem MEHR in ihrem Leben sind, hinkommen können. Wo sie Freiraum und Werkzeuge finden. Wir wollen den jungen Leuten helfen, den Mut in sich zu finden. Wir wollen ihnen nicht sagen, wie ihre Zukunft aussehen soll, sondern sie befähigen, selbst herauszufinden, welchen Weg sie gehen wollen. Diese Zukunftswerkstatt, die „Freiraum“ heißen wird, soll ein Haus sein, wo man hinkommen und in einer geistlichen Gemeinschaft unkompliziert mitleben kann. Freiraum soll aber auch persönliche Begleitung sein, ebenso wie Stille. Sie zu suchen und auszuhalten, wollen wir junge Leute befähigen. Die Werkzeuge, die wir bereitstellen sind vor allem Gebetsweisen aus unserer Spiritualität: Exerzitien, Tagesrückblick, Schriftbetrachtung, Unterscheidung der Geister.

Ich möchte aber über dieses feste Haus hinaus direkt mit Menschen in Kontakt kommen: in Schulen, Studentengemeinden oder anderen Orten, wo junge Erwachsene zusammenkommen. Ich möchte ihnen von der Suche nach dem MEHR erzählen, von der Aufregung einer solchen Suche, von der Verheißung einer solchen Suche, damit sie aufbrechen, dieses Größere, den Größeren zu suchen beginnen. Ich will also junge Leute unruhig machen, sie zum Träumen anregen, in der Hoffnung, dass sie dann auch zu uns kommen und unsere Angebote für diese, ihre eigene Suche nutzen.

Und ich will Mitarbeiter gewinnen, junge Menschen, die sagen, diese Suche nach dem Mehr gefällt mir, ich finde das toll, und unterstütze euch mit meinen Talenten. Es sollen Menschen sein, die Lust haben, die befreiende Botschaft des Evangeliums selbst zu erleben, und dann Freude daran haben mit Ihren Talenten und ihrer Kreativität die Begegnung mit dem Evangelium anderen ermöglichen. Erfahren Sie den Jesuitenorden heute als attraktiv für junge Menschen? Ich finde, unser Jesuitenorden ist sehr attraktiv, und auch das Leben, das man dort führen kann mit seinen vielfältigen Aufgaben. Wenn ich zurückblicke, wie sehr der Orden mir geholfen hat, meine Persönlichkeit zu entwickeln, mir zu helfen, meine Arbeit zu tun, mich befähigt, geistlich einen Weg in die Tiefe zu gehen, kann ich mir für mich keinen besseren Orden vorstellen. Ich glaube, dass viele jungen Menschen diesen Schatz des spirituellen Wegs noch gar nicht entdeckt haben. Egal, ob sie jetzt Jesuit werden oder nicht, das ist eigentlich das Tolle an unserem Orden: unsere Schatzkammer ist auch sehr bereichernd für Menschen außerhalb des Ordens.

Wenn Sie jetzt in die Zukunft denken, wo wollen sie hin in Ihrer Aufgabe?

Es wäre schön, wenn es in drei Jahren in der katholischen Kirche in Deutschland bekannt wäre: Bei den Jesuiten findest du eine Beratung, wie die Wirtschaft bei McKinsey. Damit provoziere ich natürlich ein bisschen innerhalb der Kirche, aber es ist verrückt: wenn ich den Begriff „Berufungscoaching“ bei Google eingebe, kommt nicht eine kirchliche Institution. Wer spricht heute nicht alles davon, „den Lebensweg frei zu machen“, so viele handeln mit Lebensglück. Bei uns aber geht es nicht um Geschäft, sondern um Gottes Ruf an einen. Ich würde gern einen Ort schaffen, wo man professionell darin unterstützt wird, nach ihm zu lauschen und ihn zu hören: Wenn du das Mehr suchst im Leben, dann geh zu den Jesuiten, dort wird Dir kompetent geholfen, damit Du Deinen Weg gehen kannst.

Das Interview führte Gerd Henghuber