Ordensgemeinschaften in Deutschland

Agrarpolitik als Teil von Weltinnenpolitik verstehen

Mit Zwischenrufen schaltet sich "Justitia et Pax" in die Debatte vor der Bundestagswahl ein.

Mit Zwischenrufen schaltet sich "Justitia et Pax" in die Debatte vor der Bundestagswahl ein. Die Deutsche Kommission "Justitia et Pax" ist eine Art "Runder Tisch" der katholischen Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche in Deutschland tätig sind. DOK-Generalsekretärin Sr. Agnesita Dobler OSF ist Mitglied der Kommission. Orden.de veröffentlicht die Beiträge im Vorfeld der Wahl.

Im aktuellen "Zwischenruf" kommt Nicole Podlinski zu Wort. Podlinski ist Agraringenieurin und Bundesvorsitzende der Katholischen Landvolkbewegung (KLB). Sie ist Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax.

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Das Recht auf Nahrung ist nicht ein Recht darauf, ernährt zu werden, sondern ein Recht darauf,
dass Menschen sich selbst ernähren können, und die Rahmenbedingungen dafür entsprechend
gesetzt werden. Jede und jeder, auch Arme, schlecht Ausgebildete, Flüchtlinge
und andere verletzliche und ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen, sollen die Chance bekommen,
sich eigenständig selbst zu ernähren. Natürlich wird es gleichzeitig immer Menschen
geben, die sich selbst temporär oder langfristig nicht eigenständig versorgen können,
z. B. Kleinkinder, Pflegebedürftige, durch Katastrophen Geschädigte, Geflüchtete, Arbeitslose
usw. Hier muss der Staat ein soziales Sicherungssystem entwickeln, das diese Menschen
unterstützt.


Aber wer kann sich wie selbst helfen? Wieviel gesellschaftliche Solidarität ist notwendig?
Darüber diskutieren wir im Wahlkampf und stellen die Fragen zu sozialpolitischen Vorhaben,
zu Arbeitslosengeld, zur Flüchtlings- aber auch zur Agrarpolitik und dem Einkommen bäuerlicher
Betriebe.


Diese Fragen können wir heute nicht mehr national betrachten - nicht einmal mehr nur EUweit.
Alles ist mit allem verbunden, die EU-Agrarpolitik mit den Nahrungsmittelmärkten in
Entwicklungsländern, die Landwirtschaft mit dem Klima oder die Migrationsbewegungen mit
den prekären Situationen ländlicher Räume weltweit. Hier ist globale Regierungsführung gefragt,
eine Weltinnenpolitik.


Die internationale Staatengemeinschaft hat Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung
entwickelt und im Jahr 2015 die UN-Nachhaltigkeitsagenda verabschiedet. Ein wichtiges Ziel
in beidem ist, die bäuerliche Produktion weltweit zu schützen. Der Hintergrund ist, dass 70
% der Ärmsten weltweit vor allem im ländlichen Raum und vor allem von der Landwirtschaft
leben. Mit ihrer Unterschrift haben sich Deutschland und die EU verpflichtet, das Recht auf
Nahrung auch für diese Menschen zu gewährleisten, zumindest nicht zu gefährden. Deswegen
können auch protektionistische Maßnahmen von Entwicklungsländern gerechtfertigt
sein, wie zum Beispiel Importzölle auf Milchpulver aus der EU. Dies kommt zur Geltung,
wenn wir durch bestimmte Handels- und Agrarpolitiken die Möglichkeiten von Menschen in
anderen Ländern, sich selbst zu ernähren, einschränken.


Aber auch unsere europäischen Landwirte haben ein Recht auf eine auskömmliche Versorgung
ihrer Familien und ihre berufliche Existenz. Bäuerliche Familienbetriebe im globalen
Norden stehen mit ihren Interessen nicht im Gegensatz zu denen im Süden. Die Armen
weltweit würden kaum gewinnen, wenn Europas Höfe sterben.


Zudem stellen wir in Entwicklungsländern Konzentrationsprozesse fest, die wir in Europa
längst kennen. So unterliegen wir in Deutschland seit Jahrzehnten einem Strukturwandel, der
in Osteuropa gerade in vollem Gang ist. Bauern in Nord und Süd haben zwar unterschiedlich
große Höfe und verschiedene Ausgangsbedingungen, aber die Entwicklung scheint für alle gleich: Preisverfall, Höfesterben, Konzentration der Handelsketten, welche die Nahrungsmittel
abnehmen, und die Konzentration der zuliefernden Unternehmen in der Agrarindustrie.
Kurz: eine immer höhere Abhängigkeit und abnehmende Einkommen der bäuerlichen Betriebe
führen zu Landflucht in Deutschland, in Europa und weltweit.


Und während die Städte boomen und durch Landflucht die Mieten in Städten steigen und
weltweit Slums entstehen, führt die immer intensivere Globalisierung der Nahrungsmittelmärkte
überall zur Vernachlässigung der ländlichen Räume. Politisch kann sich das rächen,
so finden die Populisten und Autokraten dieser Welt viel Rückhalt, vor allem in ländlichen
Räumen. Der Brexit wurde auch von den „Abgehängten“ im ländlichen Raum gewählt. Erdogan
oder die PiS Partei in Polen begründeten dort ihre Basis und Le Pen und die AfD finden
ebenfalls viele Anhänger im ländlichen Raum. Kein Wunder, das stille Sterben der Dörfer
sucht nach Sündenböcken in der etablierten Politik.


Diese Vernachlässigung des ländlichen Raumes wird den politisch Verantwortlichen zunehmend
bewusst. Sie versuchen, Antworten für den Schutz der bäuerlichen Familienbetriebe zu
finden und deswegen ist ihr Erhalt ein Ziel in den Leitlinien zum Recht auf Nahrung und auch
in der UN-Nachhaltigkeitsagenda. Die Gründe sind klar, niemand kann auf Nahrungsmittel
verzichten, und bäuerliche Familienbetriebe reagieren sehr flexibel auf Krisen oder Marktschwankungen.


Zudem sind sie zentral für die wirtschaftliche und politische Stabilität der
ländlichen Räume und der Städte und sie werden noch wichtiger in der Zukunft sein. Sie sind
das Rückgrat der ländlichen Wertschöpfungsketten. Denn bäuerliche Betriebe werden nicht
nur mehr Nahrungsmittel produzieren müssen, sondern etliche andere Rohstoffe gleich mit.
Im Pariser Klimaabkommen wurde der Ausstieg aus den fossilen Ressourcen beschlossen
und viele Länder setzen auf Dekarbonisierung und Bioökonomie. Der Materialbedarf der Industrie
soll in Zukunft zusätzlich zu gesteigerter Nahrungsmittelproduktion auf den Feldern
dieser Welt wachsen. Das erhöht den Druck auf die Verwendung von Land.


Wir haben noch die Wahl: Entweder diese Produkte kommen aus bäuerlichen Familienbetrieben,
welche vielen Menschen Einkommen ermöglichen, oder sie kommen von hochspezialisierten
und gewerblichen Großinvestoren. Die Produktion von Nahrungsmitteln wird immer
Ressourcen verbrauchen. Diskutiert wird jedoch darüber, welche Produktionsform wieviel
Natur- und Umweltkosten verursacht. Das Höfesterben führt jedenfalls zu beträchtlichen
sozialen Kosten in ländlichen Räumen. Beschleunigt wird dieser besorgniserregende Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft durch die weltweite zunehmende Monopolbildung in der
Agrarindustrie. Wir sehen die Abhängigkeit ganzer Staaten von privatem Wissen oder Patenten
auf Leben. Dies ist für die Ernährungssicherheit, aber auch für die Freiheit von Politikgestaltung
beängstigend.


Deshalb gehört zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung die Förderung eigenständiger bäuerlicher
Familienbetriebe und ländlicher Entwicklung im Norden wie im Süden. Eine in diesem
Sinne nachhaltige Agrar- und Handelspolitik ist Teil verantwortungsvoller Weltinnenpolitik:
für alle bäuerlichen Betriebe weltweit - und für uns, deren Nutznießer.


Bonn, 31. August 2017
Nicole Podlinski