Ordensgemeinschaften in Deutschland

Kolumne: Sein Gesicht hergeben?

Im Kreuzgang unseres Benediktinerklosters in Ottobeuren hängen über den Türen die Portraits von Heiligen, darunter die der vier lateinischen Kirchenväter Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregors des Großen. Seinen Gedenktag begehen wir am 3. September. Das Besondere, oder besser: Verwunderliche an dem 1739 gemalten Portrait Papst Gregors ist, dass der damalige Abt von Ottobeuren und Erbauer der barocken Klosteranlage, Rupert Neß (1670-1740), dem Papst sein eigenes Gesicht hat malen lassen. Natürlich weiß keiner, wie Papst Gregor der Große (+ 604) einst aussah, aber statt ein Phantasiegesicht oder das eines unbekannten Menschen zu wählen, hat der Abt dem Maler aufgetragen, dem Papst sein Gesicht zu geben.

Für gewöhnlich setzen Menschen Masken auf und verbergen aus irgendeinem Grund damit ihr Gesicht. Beim Ottobeurer Papstportrait ist es umgekehrt, dass da jemand (der Abt) einem anderen (dem Papst) sein Gesicht „leiht.“  Oder geht es dabei vielleicht um mehr? Jemandem ein Gesicht geben, das er/sie aus irgendeinem Grund verloren hat? Jemandem vielleicht eine Identität leihen oder schenken, die er/sie noch nie hatte? Ist das überhaupt möglich?

Mir kommt der Galaterbrief in den Sinn. Ist es nicht das Ziel meines geistlichen Lebens, das zu erreichen, worüber der Apostel Paulus schreibt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2, 20)? Christus schenkt mir meine Identität. Und schon fällt mir im nächsten Moment das bekannte Motto ein: „Gib dem Evangelium (d)ein Gesicht.“ Was auch immer Abt Rupert Ness also damals im 18. Jahrhundert dazu bewegt haben mag, Papst Gregor dem Großen sein Gesicht zu geben, im Blick auf Christus und sein Evangelium habe ich verstanden, was es bedeutet. Ich will mich bemühen.

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Über den Autor

Johannes Schaber OSB ist Abt der Benediktinerabtei Ottobeuren.

Hier geht es zur Website der Benediktinerabtei Ottobeuren.