Ordensgemeinschaften in Deutschland

Kolumne: Die Ehrlichkeit des Herbsts

Herbst.
ich finde diese Jahreszeit irdisch. Irdisch durch die erdenen Farbtöne und die deutlichen Zeichen der Vergänglichkeit. Die Natur wehr sich nicht, sie lebt ihr Jetzt und Hier, und darin ist sie schön. Sehr schön. Sie ist ehrlich und unverstellt. Blätter werden dünnhäutig und damit durchlässig für das Licht. Das Obst, über Monate gereift, fällt, fällt einfach so. Ohne Rebellion und Widerstand und räumt so das Feld für Neues: der Frühling blinzelt bereits aus den klebrigen Knospen einer Kastanie. Und wer nicht einfach seinen Trott lebt, sondern die Sinne offen hält im Hier und Jetzt, wer ansprechbar bleibt für den Zustand der Natur und den Sorgen und Nöten des Menschen gerät in den Orbit des Göttlichen.

„Wir werden eingetaucht und
mit dem Wasser der Sintflut gewaschen.
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.“

So holt Hilde Domin diese tiefe Erfahrung ins Wort. Die Natur verbirgt ihre Wachstumsspuren von Wind und Wetter nicht. Und wir werden nicht verschont von Nachrichten, die die Welt leiden macht: Unser Leben ist bedroht. Die politischen Wahlergebnisse im Osten Deutschlands machen hilflos. Die sinnlosen Kriege ermüden. Und Hilde Domin schreibt weiter:

„Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht.“

Was uns bis auf die Herzhaut trifft, lässt uns nicht kalt, lässt uns leiden. Mitleiden. Diese Offenheit, die wir so sehr brauchen, macht uns durchlässig,
auch für GOTT. Wir werden heilsam ins Dazwischen gestellt. Du, und ich dazwischen, zwischen GOTT und der Welt. Zwischen all dem Schwierigen, dem Bedrückenden und der Erlösung. Als Christinnen und Christen sind wir das Verbindungsglied. Ganz menschlich und göttlich zugleich. Das ist das, was taugt: Wir reifen in GOTT hinein und werden Ort der Versöhnung und der liebenden Präsenz. Nach Hilde Domin erwartet uns nicht Unversehrtheit mitten in der Welt, aber wir werden stets von neuem zu uns selbst entlassen: freier, toleranter, liebender.
 

O GOTT, lass mich ein Werkzeug Deines Friedens sein.
Dazwischen. Mitten drin.

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Über die Autorin

Sr. M. Scholastika Jurt OP ist Generalpriorin der Arenberger Dominikanerinnen

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